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Anhang: Ein Brief des lahmen Ewald

Schmargendorf, am 2.Febr. 1907

Lieber ferner Freund, lieber Herr Rilke!

Was soll ich sagen zu dieser seltenen Freude. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wenn ich danke sage, so oft: danke, als ich es wohl möchte, so ist alles fast wie vorher; dann hab ich danke, danke, danke gesagt, und Sie denken: gut, ich habe gegeben, und er hat schlecht, so gut er konnte, dafür bezahlt mit seinem Dank. Diese Angelegenheit ist damit abgeschlossen. Das aber, sehen Sie, das soll sie nicht sein. So wenig, als sie es war, damals, als Sie plötzlich abgereist waren; nein, das erfuhr ich erst später; die Leute sagten es mir: Herr Rilke ist abgereist; sie knüpften daran allerhand Vermutungen, ja, um es aufrichtig zu sagen, es wurde sehr viel über Ihre Abreise gesprochen. Ich kann ja nicht fortgehen; ich höre, was zu mir kommt, und ich habe da manches gehört, was ich nicht verstand. Was die Leute alles wissen! Sie wissen die Einzelheiten, und die begriff ich nicht. Aber ich wußte das Ganze und hatte großes Vertrauen dazu. Ihre Abreise, wie gesagt, wurde mir erzählt; ich saß und saß, und Sie kamen nicht. Und schon, bevor ich die Leute von Ihrer unvermuteten Abreise sprechen hörte, erzählte ich den Kindern, daß Sie wieder weit wären, und die Kinder fragten wo und rieten auf Amerika. Da sagte ich, daß ich das nicht glaubte. Nein, das glaubte ich nicht. Wir wollen das unentschieden lassen, bat ich die Kinder. Wenn er wiederkommt, dann erfahr ich’s ja doch, und dann sagt er mir nicht den Namen allein, sondern auch den Vornamen jenes Landes und alles. Wollen wir warten? – Wir entschlossen uns dazu. Wer aber nicht wiederkam, das waren Sie. Die Kinder hatten herausgebracht, daß Ihre Zimmer vermietet worden waren, und an dem Tage, da ich diese Nachricht empfing, erschrak ich darüber, daß Sie mir nicht Lebewohl gesagt hatten; daß Sie das tun konnten: ganz fortgehen, ohne es zu sagen. Später sah ich freilich ein, wie schlecht das zu unserer Beziehung gepaßt hätte; es gab ja gar keine solche Stelle in ihr, wo etwas so gesagt worden wäre. Wissen wir denn, ob ein Fortgehen eines ist? Durch gewisse Worte, durch gewisse Bewegungen macht man es dazu. Ob ich aber (ich frage es mich) innerlich so oft hätte mit Ihnen verkehren können während dieser Jahre, wie ich es in Wirklichkeit getan habe, wenn wir vorher Abschied genommen hätten? – Ich glaube, daß mich das später sehr beirrt hätte.

Nun haben Sie mir geschrieben, lieber Herr Rilke, lieber ferner Freund (wie ich mir erlauben muß, manchmal zu sagen, nein, zu denken), und der Ton Ihres Briefes ist mir so bekannt (obwohl es ein neuer Ton ist in mancher Beziehung), daß ich merke, daß unsere Verbindung eigentlich nicht unterbrochen war. – Sie haben viel gesehen; viel Merkwürdiges. Die Beschreibung Brügges beschäftigt mich sehr, mehr vielleicht, als ich selber begreife. Bin ich jemals dort gewesen? Woher weiß ich das alles? Und das Wunder bei der Prozession in Gent: wie die Knaben plötzlich fühlen, daß sie die Weihrauchfässer nicht mehr schwingen, sondern sie nur noch zurückreißen wie junge Falken an der Leine, die aufsteigen wollen; und wie die Kinder, die die spanische Madonna tragen, auf einmal Schritte leise, ganz leise auf ihren Schultern fühlen, gehend über sie hin, wie über Wasser – : ach, wie wahr ist das alles, wie wahr! Und Sie haben gesehen, wie sie ging! Ich weiß ja nicht, wie Gehen ist, lieber Herr Rilke, und ich stelle es mir unbeschreiblich schön vor; aber ich weiß dafür, wie das ist: so auf die Schultern genommen sein. Es gibt Stunden, die das tun, die mich vorsichtig aufnehmen und herumtragen, und während es geschieht, entbehre ich nichts, und ich kann mir nichts Wunderbareres vorstellen. Und nun erzählen Sie mir, daß die Madonna so herumgetragen wird und plötzlich geht. Und ich glaube, daß ich auch gehe in solchen Augenblicken: darum sind sie so merkwürdig schön.

Daß ich aber nie so weit gehen werde, um die liebe Freundin zu sehen, der ich recht eigentlich verdanke, daß Sie mir geschrieben haben, das hat mich in diesen Tagen oft traurig gemacht. Wenn Sie ihr schreiben, so bitte, grüßen Sie sie. Ich sage ganz einfach grüßen, obwohl ich weiß, daß es andere Ausdrücke gibt, ergebenere und verbindlichere; aber ich kann mir nichts dabei vorstellen.

Die Kinder würde ich gerne fragen, wie das kleine Mädchen beten soll, das »anders beten« will. Aber ich muß mir erst eine Geschichte ausdenken, die so ganz selbstverständlich zu einer ähnlichen Frage führt; denn eine Frage, ganz allein und wirklich gefragt, erschreckt die Kinder und verwirrt sie. Nun lächeln Sie, weil ich sage: ausdenken. Es ist ein komischer Ausweg, aber was für einen anderen hätte ich finden sollen, weil Sie nicht mehr vorüberkommen? Da hieß es eben erfinden? Diesmal hab ich den Stoff ja bekommen, und das ist mir lieb; obwohl es mich auch recht befangen macht.

Ach, was dieses kleine Mädchen da sagt, lieber, lieber Herr Rilke, haben wirs nicht alle gesagt, eines Abends: Ich will anders beten. Und ist einer unter uns, der gewußt hat wie? Waren wir nicht alle ratlos und versuchtens auf die und jene Art, und konntens auf keine? Und schließlich gaben wirs auf: als unnütz, wie wir sagten; als zu schwer, wie wir hätten eingestehen müssen, wenn wir damals schon gelernt gehabt hätten, ein klein wenig aufrichtiger zu sein. Aber später, als wirs lange nicht mehr taten, da kam die Stunde, da wir uns irgendwie beschäftigt fanden, vertieft, verloren in etwas, um etwas versammelt: wissen Sie’s noch? Und plötzlich war Gott da, eine Sekunde lang. Wir zitterten. Warum war er gekommen? Wer hatte ihn gerufen? Was war geschehen? – Wir hatten gebetet, ohne es zu wissen. Wir hatten anders gebetet. Und so schön wird es nie wieder, wie dieses eine Mal. Später weiß man es; vergessen läßt sichs nicht wieder. Aber kann es denn sein, daß etwas so Großes und Wahres zu Ende ist, auf seinem Höhepunkt, daß es nicht noch immer zunehmen kann an Schönheit? Darüber denke ich manchmal nach.

Ich habe ja überhaupt nicht aufgehört nachzudenken. An Zeit dazu fehlt es nicht; die Kinder kommen seltener. Ob ich alt werde? Manchmal denke ich auch, wie Sie mich finden würden, wenn Sie einmal wiederkommen. Gealtert sicher. Meine Hände wenigstens sehen alt aus, und an den vielen Tagen, da keine Sonne scheint, habe ich etwas Mühe, sie warm zu halten. Gewiß haben Sie mich anders in der Erinnerung, und besonders meine Stube stellen Sie sich größer vor. Ach, wie klein sie doch ist. Und sie ist sogar noch etwas kleiner geworden, seit Herr Baum mir einen sehr großen Lehnstuhl geschenkt hat (Weihnachten vor zwei Jahren), der viel mehr Platz braucht als der alte, dessen Stelle am Fenster er mit Umständlichkeit eingenommen hat. Und vor dem Fenster. Ja, ein bißchen sehe ich ja noch vorbei in das, was der Waldanfang ist, aber zuerst muß ich mich doch jedes Mal mit dem neuen Haus auseinandersetzen, das um ein Haar ganz vor das Freie zu stehen gekommen wäre. Es ist jetzt fertig, und oben (es hat drei Stockwerke) sind abends schon zwei Fenster hell. Und diese zwei hellen Fenster in dem ganz hohen, neuen, leeren Haus haben es mir auf einmal lieb gemacht, nachdem ich es immerzu gehaßt hatte, während sie bauten. Da schien mir, als ob es mir alles verdecken würde. Aber nun, nun ist es da, so merk ich, daß das, was ich meinte, sich nicht verdecken läßt.

Da ist es wieder, denk ich am Abend, und es rührt mich, diese ersten zwei hellen Fenster zu sehen in dem großen, leeren Haus. Ich versuche mir vorzustellen, wer dort wohnt, und ich begreife wohl, daß es keine reichen Leute sind. Aber trotzdem, diese Helligkeit da oben, diese kleine arglose Helligkeit, scheint mir viel und wie etwas Gutes und Mutiges. Ich entdecke mit Erstaunen, daß sie in mir nicht geringere Gedanken hervorruft als das, was ich früher sah, da dorten nur Himmel war über hohen nächtlichen Kiefern. Wie das doch alles zusammengehört!

Dieses hier schreibe ich Ihnen in mehreren Absätzen; es ist so viel Gehen im Schreiben, und das strengt mich an und verwirrt mich. Ich mußte aufhören und wieder anfangen. Wahrscheinlich werden Briefe ganz anders gemacht. Ich habe keine Ahnung wie. Ich weiß nur, daß man zum Schluß etwas von Freundschaft und Ergebenheit sagen darf, ohne deshalb besonders auffallend oder zudringlich zu scheinen. Das will ich ausnützen und Sie bitten, lieber Herr Rilke, es recht wörtlich zu nehmen, wenn ich sage, daß ich in Herzlichkeit der Ihre bin,

Ihr dankbarer

Ewald.

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